Haus-Geschichte

Diedrich Müller Diedrichs

Der Kaufmann und Lichterfabrikant Diedrich Müller Diedrichs (1813 – 5. 2. 1895) bewohnte auf diesem Grundstück gemeinsam mit Ehefrau Maria Katharina Diedrichs (1813 – gest. vor 1895) ab spätestens 1845 ein Haus mit Scheune, die am 25. September 1860 dem großen Esenser Stadtbrand zum Opfer fielen. Gleich nebenan, Markt-Quartier 55, wohnte Bürgermeister Hinrich Christoph Hegeler. Zuvor waren auf diesem Grundstück Johann Mennen gemeldet, der (um 1805) im Haus von Amtssteuerrath Kettler wohnte. Und Lichtzieher Frerich Hinrichs lebte (um 1831) im Haus der Erben von Bürgermeister-Witwe Hegeler (1759–1773; Amtszeit von Hinrich Christoph Hegeler); ebenso Berend Eils.

Schon bald nach der Katastrophe, im Jahr 1862, ließ Diedrichs das noch heute vorzufindende Wohnhaus im gutbürgerlichen Stil der frühen Gründerzeit in der Westerstraße 9 auf ehemals zwei kleineren und nun zusammengelegten Grundstücken (Markt-Quartier 52 und 53) errichten. Es wurde in der historisierenden Art der Hannoverschen Bauschule ähnlich der 1854 eingeweihten St.-Magnus-Kirche und der 1866 bezogenen neuen Volksschule realisiert. Auf dem Nebengrundstück ließ Diedrich Diedrichs zeitgleich ein Packhaus mit Scheune errichten, seinerzeit Markt-Quartier 54/55, heute Westerstraße 11.

Die Fassade des unverputzten Ziegelhauses wurde fünfachsig angelegt. Die mittlere Achse mit der Eingangstür ist als Risalit leicht hervorgehoben. Zur zurückgezogenen Eingangstür führt eine Sandsteintreppe. Die hohen Fenster im Erdgeschoss sind nach oben durch Stuckbögen, die Fenster im Obergeschoss durch halbkreisförmige Bögen begrenzt. Beide Etagen werden durch ein Fries mit Kreuzmuster getrennt.

In der Küche mit offener Feuerstelle wurden als Steinboden „Bremer Floren“ verlegt, die Wände in Treppenhaus und Obergeschoss in einem dunklen Braunton gehalten und erhielten später Verzierungen mit Schablonen, Musterwalze und später zeitgenössische Tapete. Zunächst gab es Bordüren einige Zentimeter unter der Decke – diese Marke geriet im Laufe der Jahrzehnte immer höher, bis auf eine Wandverzierung ganz verzichtet wurde.

Enno Rudolph Aschen Becker

Nach dem Tod Diedrichs erwarb 1896 dann der betuchte Kaufmann und Getreidehändler Enno Rudolph Aschen Becker (5. 9. 1864 – 9. 2. 1907), Sohn des von 1873 bis 1906 wirkenden Bürgermeisters Enno Rudolph Becker (28. 2. 1820 – 27. 5. 1907), das Anwesen, um es als repräsentativen Wohnsitz mit gepflegtem Stadtgarten zu nutzen. Er ließ nach Übernahme offensichtlich die später wiederentdeckten Schablonenmalereien im Jugendstil und Strichbemalungen durch das gesamte Treppenhaus bis zum Dach aufbringen. Der Bruder von Enno Rudolph Aschen Becker, Kaufmann Diedrich Gerhard Becker (1853–1922), führte nach dem Vater das Bürgermeisteramt von 1906 bis 1922 weiter – nach ihm wurde aufgrund dessen Ansehen der frühere Leegweg in Bürgermeister-Becker-Straße umbenannt.

Das Wohnhaus bot reichlich Platz für eine große Familie. So bekamen Kaufmann Becker und seine Ehefrau Eva Christine Marie Becker (geb. Reinders, aus Seriem, 3. 6. 1870 – 26. 5. 1945) sieben Kinder: Eimo Hajo Reinhard Becker (1896–1899), Enno Rudolf Aschen Becker (1897–1919), Margarethe Becker (1899–1990), Anneliese Becker (1900–1988), Hannah Catharine Elfriede Henriette Becker (1902–1973), Katharina Luise Bertha Schesmer, geb. Becker (1904–2000) und schließlich Meta Dora Becker (1907–1999). Um die Jahrhundertwende wurde ebenso das Haus Westerstraße 11 angekauft.

Die großen Investitionen in die beiden Gebäude mit umfangreichen Geschäftsräumen an der Westerstraße 1 (Ecke Schafmarkt) und Am Markt 20 (später Landhandel Wieting / Getränkehandel Wieting) führten 1907 zum Zusammenbruch der um 1800 von Enno Beckers Urgroßvater Wilhelm Aschen gegründeten Getreide- und Bankiersfirma Becker. Der Familie gingen die Liegenschaften am Schafmarkt verloren; das Wohnhaus Westerstraße 9 indes blieb in Familienbesitz.

1926 ließ Witwe Eva Becker die bisherigen steinernen Dachzinnen im Bereich der Traufe abtragen und neue Dachrinnen setzen. Die größtenteils ledigen Töchter blieben im Haus wohnen.

Die letzte große Renovierung, bei der auch wohl der rückwärtige Anbau im Bereich des mittigen Treppenhauses entstand, wurde in der Becker-Ära im Jahr 1966 vorgenommen. In fast jedem Zimmer stand ein Ofen.

Die jüngsten Töchter wohnten noch bis in das ausgehende 20. Jahrhundert hier: Meta Dora Becker (gestorben 27. August 1999) und Katharina Luise Bertha Schesmer (gestorben 5. April 2000) waren die letzten 92- beziehungsweise 95-jährigen Bewohnerinnen, die zuvor gerne Exkursionen unternahmen und daher auch allerhand Reisesouvenirs hinterließen.

Die letzten Besitzerinnen aus der einst bedeutsamen Familie Becker hatten das Haus zu gleichen Teilen dem Hermann-Gmeiner-Fonds („SOS-Kinderdorf“) und dem Peter-Friedrich- Ludwig-Stift vermacht. Gemeinsam beauftragten sie den Esenser Arzt Georg Staudacher als Verwalter, das Gebäude zu veräußern. So entschied sich der Esenser Stadtrat für den Erwerb der Immobilie und investierte mit Kaufvertrag vom 28. November 2001 für Haus und wertvollem Mobiliar 280 000 Mark (143 000 Euro), um hier eine Seniorenbegegnungsstätte für die Samtgemeinde einzurichten sowie die von-Wangelinsche Gemäldesammlung dauerhaft ausstellen zu können. Im Obergeschoss sollte Mietwohnraum geschaffen werden.

Allerdings gelang es nicht, erforderliche Zuschüsse für die Senioreneinrichtung einzuwerben. Vielmehr konnte das in der Nähe liegende, frühere Verwaltungsgebäude des Kurvereins Esens-Bensersiel („Im Giebel“) als Mehrgenerationshaus mit dem AWO-Kreisverband Wittmund als Träger eröffnet werden. Das Becker-Haus blieb über Jahre leer, der Heimatverein für Stadt und Amt Esens konnte jedoch allerhand Hausrat und Souvenirs der reiselustigen Schwestern für Ausstellungen im Museum „Leben am Meer“ übernehmen. 2002/2003 erforschte Restaurator Erwin Früsemers (Jever) die Geschichte und Farbgestaltungen der Innenräume. Im Garten veranstaltete Georg Staudacher jun. eine Musikveranstaltung.

Cyrus Overbeck

Durch den Esenser Ratsherren Fokko Saathoff entstand dann der Kontakt mit dem seinerzeit in Dornum lebenden Künstler und Kunstsammler Cyrus Overbeck (geb. 1. Juni 1970 in Duisburg). Nach Verhandlungen beschloss der Stadtrat, das Becker-Haus auf dem 1000 Quadratmeter umfassenden Grundstück im Sommer 2004 an den Künstler zu einem symbolischen Kaufpreis von einem Euro zu verkaufen, um es als ortsbildprägendes Gebäude erhalten zu können. Die unter Denkmalschutz stehende „Stadtvilla“ mit einer Wohnfläche von 260 Quadratmetern besaß bislang acht Zimmer, zwei Bäder und einen großen, hohen Gewölbekeller. Rückwärtig war Mitte des 20. Jahrhunderts ein Anbau angesetzt worden.

Allerdings musste sich der Neueigentümer schriftlich zur Sanierung binnen drei Jahren verpflichten. Vertragsbestandteil war außerdem, dass Overbeck für die Dauer von mindestens zehn Jahren seinen Hauptwohnsitz in diesem Gebäude nehmen und es der Öffentlichkeit durch Seminare, Ausstellungen, Konzerte und Lesungen zugänglich machen musste. Für den Fall, dass der Künstler Esens verlassen und die Nutzung des Gebäudes aufgeben wolle, regelte ein Passus zusätzlich, dass Overbeck der Stadt einen Betrag von 120000 Euro zuzüglich zwei Prozent Zinsen je begonnenem Jahr bezahlen muss. Und: Seine Werke und seine Kunstsammlung (laut Künstler damaliger Versicherungswert 300 000 Euro) würden nach dem Tod des Künstlers auf die Stadt übergehen.

War man im Ursprung davon ausgegangen, dass die Klauseln unbenutzt bleiben würden, so dauerte es nur bis 2006, bis Overbeck 120 000 Euro plus zwei Prozent Zinsen (also 124 800 Euro) an die Stadtkasse zahlte und damit das Schlupfloch im Vertrag nutzte. Esens verlassen oder die Nutzung des Gebäudes aufgeben, das wollte der Künstler nach Bericht in der Tageszeitung Anzeiger für Harlingerland allerdings nicht. Damit gehörte das Haus ohne Einschränkungen dem Neubürger; der 2004 integrierte Kunst-Erbschaftsvertrag wurde hinfällig.

Bürgermeister Wilhelm Ebrecht bezeichnete die neue Bestimmung des Becker-Hauses und die Bindung Cyrus Overbecks an Esens 2004 als „Glücksfall für die Heimstadt für Kunst und Kultur“, als Bereicherung des Kulturangebotes. Der anerkannte Otto-Pankok-Biograph Overbeck machte sich an die Sanierung von Dach, Außenwänden und Innenräumen, ließ neue Schablonenmalereien anfertigen. In Details eckte er allerdings mit dem Denkmalschutz an. Im Obergeschoss entstand neben einem Atelier ein Konzert- und Vortragsraum, indem zwei Zimmer zusammengeschlossen wurden. Ein Konzert veranstaltete man beispielsweise im Februar 2006. Einen Flügel ließ er mit dem Schriftzug „Bürgermeister-Becker-Haus“ versehen, obwohl es sich hier nicht um einen ehemaligen Bürgermeister-Wohnsitz handelt. 2007 bezog der Künstler nach Sanierung seine Wohnung im Becker-Haus, in dem er ebenfalls kurzzeitig Radierkurse anbot (2005). Längerfristig plante Overbeck nach eigenen Aussagen

eine Malschule nach dem Vorbild der Kunsthalle Emden. Das kleine Café sollte inmitten betagter Möbel zum Verweilen und Austausch einladen.

Den Halbperser Cyrus Overbeck beschrieben auswärtige Zeitgenossen als erfindungsreichen und technisch versierten Künstler, der bereits eine größere Zahl an Malereien, Holzschnitten, Radierungen und Lithographien produziert hat. Von 2004 bis 2007 arbeitete der studierte Lehrer jeweils nur kurzzeitig in den Fächern Deutsch, evangelische Theologie, Kunst und Geschichte am Niedersächsischen Internatsgymnasium Esens, der Fabricius-Schule (Haupt- und Realschule) Westerholt und der Carl-Gittermann-Realschule Esens. Danach folgten Auslandsaufenthalte.

Ab 2007 war das Gebäude nur nach Vereinbarung zugänglich, regelmäßige Öffnungszeiten wurden nicht mehr angeboten. Der Künstler provozierte gerne, hängte zum Beispiel im September 2007 ein Plakat „Hier demnächst Sex-Shop“ in ein Fenster des geschlossenen Hauses. Später erklärte er, er habe damit seine neue Bilderserie gemeint. Im Mai 2012 ließ Künstler Cyrus Overbeck den idyllischen Garten einebnen – als Trotz auf Basis einer Privatfehde mit Grünen-Mitgliedern in der Samtgemeinde Esens. Das Landesdenkmalamt hatte Haus und Garten als Ensemble als Denkmal eingeschätzt, der Landkreis Wittmund (Untere Denkmalsbehörde) nicht.

Das Haus stand im Mai 2013 beim Esenser Immobilienmakler Hartmut Raveling für eine halbe Million Euro zum Verkauf. Den Kaufpreis rechtfertigte er mit den geleisteten Restaurierungskosten von 250000 Euro und der Zahlung von 124800 Euro an die Stadt Esens. Sein bislang abvermietetes Privathaus im Süchtenkamp verkaufte er im Frühjahr 2013. Die Bärenstadt sei für ihn als „heimatlosen Halbperser“ zur lieb gewordenen Wahlheimat geworden, auch wenn er die fehlende Akzeptanz seiner Person in bestimmten Kreisen und ein fehlendes Demokratieverständnis bedauert, sagte er in diesem Jahr. Das 2009 erworbene Haus in der Marktstraße 8 mit Atelier und „Caféle“ werde er behalten. Allerdings werde er auch in Zukunft längere Zeiträume in größeren Metropolen verbringen. In Düsseldorf-Flingern hatte er zuvor ein neues Atelier eröffnet.

2013 baute sich Overbeck eine Radierpresse, auf der Formate bis 2,4 Metern Länge gedruckt

werden konnten. 2018 wurde der Künstler in die Jury des Gutenberg-Museums Mainz berufen und stieß in Neuharlingersiel eine Auseinandersetzung mit dem Juristen und Politiker Georg von Eucken-Addenhausen an, dem er offensichtlich eine völkische und nationalsozialistische Gesinnung nachwies.

Nach einem öffentlichen Wortbeitrag zum Reformationstag 2018 in der St.-Magnus-Kirche setzte er einen Streit mit dem Esenser Künstler Hans-Christian Petersen in Gang, dessen Vater Wilhelm Petersen als Nationalsozialist künstlerisch tätig war und bis heute erhältliche Bücher in rechten Verlagen veröffentlichte. Seit 2018 setzte sich der Künstler in den Grafiken aus seinem Zyklus „Album der Erinnerung“ mit der Virulenz von Nationalismus, Antisemitismus und Neofaschismus auseinander. In der Esenser Ratsgaststätte wurde Cyrus Overbeck im Mai

2019 nach eigenem Empfinden aus antisemitischen Motiven heraus angegriffen, kehrte der Bärenstadt danach den Rücken und lebt seither wieder in Duisburg. Er trat zudem aus der Schützencompagnie aus.

Kristina Sinemus und Marcel Harke

Cyrus Overbeck, der 2019 nach zehnjähriger Nutzung auch das Haus in der Marktstraße verkauft hatte, bewohnte das Haus Westerstraße 9 nur noch sporadisch. Im Frühjahr 2020 erwarb es die aus Darmstadt stammende Unternehmerin Prof. Dr. Kristina Sinemus (geb. 1963), die im Januar 2019 Staatsministerin für Digitale Strategie und Entwicklung im Bundesland Hessen wurde.

In Münster und Kassel studierte sie unter anderen Kommunalwissenschaften und Pädagogik und wurde 1995 an der TU Darmstadt zum interdisziplinären Thema „Biologische Risikoanalyse gentechnisch hergestellter Herbizid-resistente Nutzpflanzen“ promoviert. 1998 gründete sie als geschäftsführende Gesellschafterin die Genius GmbH, die sich als Fachagentur auf Wissenschaftskommunikation spezialisierte. Sinemus wurde 2011 an der Quadriga Hochschule Berlin zur Professorin für Public Affairs ernannt. 2014 wählte man sie zur Präsidentin der Industrie- und Handelskammer Darmstadt Rhein Main Neckar. Mitglied im Rat für Digitaltechnik ist sie seit September 2018. Als Parteilose wurde Sinemus im Januar 2019 für die hessische CDU zur Staatsministerin des neuen Digital-Ministeriums ernannt.

Kristina Sinemus und ihr Ehemann Marcel Harke haben sich vorgenommen, das Haus mit Garten wieder in einem dem Stadtbild und der Historie des Hauses entsprechenden Zustand zu versetzen. Neben einer Wohnung im Obergeschoss sollen nach Umbau im Erdgeschoss Gewerbeflächen angeboten werden. Esens‘ Bürgermeisterin Karin Emken ist glücklich über den Besitzerwechsel: Die Stadt sei glücklich, dass mit dem Eigentümerwechsel auch künftig der Erhalt des Baudenkmals gesichert ist. „Wir sehen das Becker-Haus mit St.-Magnus- Kirche und alter Volksschule als prägendes und erhaltenswertes Ensemble“, sagt sie. Die Stadt habe ihr Vorkaufsrecht nicht in Anspruch genommen.

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Quellen:

Detlef Kiesé: Esens-Archiv
Anzeiger für Harlingerland, diverse Artikel Erwin Früsemers: Recherchen zur Restaurierung

Kurzfassung der Haus-Geschichte

Nachdem der Esenser Stadtbrand 1860 den Vorgängerbau vernichtet hatte, ließ der Kaufmann und Lichterfabrikant Diedrich Müller Diedrichs (1813–1895) das stattliche Wohnhaus im Stil der frühen Gründerzeit errichten – in Anlehnung an die historisierende Art der Hannoverschen Bauschule, wie sie in der St.-Magnus-Kirche und der Volksschule Anwendung fand.

Im Jahr 1896 erwarb dann Getreidehändler Enno Rudolph Aschen Becker (1864–1907), Sohn von Bürgermeister Enno Rudolph Becker (1820–1907) als repräsentativen Wohnsitz. Diedrich Gerhard Becker, der Bruder des Hausherrn, trat 1906 die Nachfolge des Vaters im Bürgermeisteramt an. Unter den sieben Kindern mit Ehefrau Eva Christine Marie Becker (geb. Reinders, 1870– 1945) lebten Katharina Luise Bertha Schesmer (geb. Becker; 1904– 2000) und Meta Dora Becker (1907–1999) noch bis zum Ende des Jahrtausend dort. Erben des Anwesens waren der Hermann-Gmeiner-Fonds (SOS-Kinderdorf) und die Esenser Senioreneinrichtung Peter-Friedrich-Ludwig-Stift.

So erwarb die Stadt Esens das Gebäude und das wertvolle Mobiliar 2001 zum Betrag von 280000 Mark (143 000 Euro), um hier eine Seniorenbegegnungsstätte für die Samtgemeinde einzurichten. Als dies nicht gelang veräußerte die Stadt das Becker-Haus 2004 an den Künstler und Kunstsammler Cyrus Overbeck (Jahrgang 1970) zu einem symbolischen Kaufpreis von einem Euro. Der verpflichtete sich in einem Kunst- und Erbschaftsvertrags, das Haus binnen drei Jahren auf eigene Kosten zu sanieren und mindestens zehn Jahren dort wohnen zu bleiben. Der Künstler stieg 2006 aus dem Vertrag aus und zahlte 124800 Euro an die Stadtkasse.

Das Haus wurde in Teilen restauriert; im Obergeschoss entstand neben einem Wohnung und Atelier ein Vortragsraum. Bald war das Becker-Haus jedoch nicht mehr öffentlich zugänglich. Ab 2013 bot Cyrus Overbeck, der 2009 das Haus Marktstraße 8 für sein Atelier-Café erworben hatte, das Becker-Haus zum Kauf an. Erst 2020 fand das Wohnhaus aus der Gründerzeit einen neuen Eigentümer, nachdem der mittlerweile umstrittene Overbeck das Haus an der Marktstraße verkauft hatte und nach Duisburg zurückgezogen war.

Im Frühjahr 2020 erwarb das aus Darmstadt stammende Ehepaar Marcel Harke und Kristina Sinemus, sie seit 2019 Digital-Staatsministerin im Bundesland Hessen, das Anwesen. Sie möchten Haus und Garten mittelfristig wieder in einen vorzeigbaren Zustand versetzen.

Nach dem 150. Geburtstag ein neuer Besitzer?

Baugeschichte Künstler Cyrus Overbeck verkauft sein „Becker-Haus“ in der Westerstraße

Haus wird für eine halbe Million Euro angeboten. In der Küche „Bremer Floren“

Von Detlef Kiesé (/ET: 13. Mai 2013)

ESENS – Es sorgte in Esens bereits im Jahr 2004 für Diskussionen, als der aus Duisburg stammende Künstler Cyrus Overbeck das Gebäude für einen symbolischen Euro von der Stadt Esens erwarb: das frühere Wohnhaus der Familie Enno Becker, das in der Westerstraße 9 in Esens im vergangenen Jahr 150 Jahre alt wurde.

Die zweigeschossige Immobilie, die zuweilen fälschlicherweise als Bürgermeister-Becker- Haus bezeichnet wurde, steht jetzt wieder zum Verkauf, was Makler Hartmut Raveling (Esens) bestätigt. Der Eigentümer habe den Kaufpreis für die Immobilie samt dem kompletten Grundstück von fast 1000 Quadratmeter auf eine halbe Millionen Euro festgesetzt. Die unter Denkmalschutz stehende „Stadtvilla“ mit einer Wohnfläche von 260 Quadratmetern besitzt acht Zimmer, zwei Bäder und einen großen, hohen Gewölbekeller. „Die Nachfrage von Interessenten war an den ersten Tagen erstaunlich groß, insbesondere von Einheimischen“, berichtet Raveling. Eine Wohnnutzung werde favorisiert, aber auch Gewerbe sei in dem Becker-Haus möglich.

„Ich fühle mich in Esens wohl und werde meinen Hauptwohnsitz hier behalten“, erklärte Cyrus Overbeck auf Nachfrage unserer Zeitung. Die Bärenstadt sei für ihn als „heimatlosen Halbperser“ zur lieb gewordenen Wahlheimat geworden, auch wenn er die fehlende Akzeptanz seiner Person in bestimmten Kreisen und psychischen Druck / fehlendes Demokratieverständnis bedauert. Das 2009 erworbene Haus in der Marktstraße mit Atelier und „Caféle“ werde er behalten. Allerdings werde er auch in Zukunft längere Zeiträume in größeren Metropolen verbringen. In Düsseldorf-Flingern hat er kürzlich ein neues Atelier eröffnet. Den Kaufpreis rechtfertigt er mit den geleisteten Restaurierungskosten von 250000 Euro und der Zahlung von 124800 Euro an die Stadt Esens. Sein bislang abvermietetes Privathaus im Süchtenkamp verkaufte er im Frühjahr 2013 ebenfalls.

Die letzten Besitzerinnen aus der einst bedeutsamen Familie Becker hatten das Haus zu gleichen Teilen dem Hermann-Gmeiner-Fonds („SOS-Kinderdorf“) und dem Peter-Friedrich- Ludwig-Stift vermacht, die den Arzt Georg Staudacher als Verwalter beauftragten, das Gebäude nach dem Tod der Damen zu veräußern. So entschied sich der Esenser Stadtrat für den Erwerb und investierte mit Kaufvertrag vom 28. November 2001 für Haus und

wertvollem Mobiliar 280000 Mark (143 000 Euro), um hier eine Seniorenbegegnungsstätte für die Samtgemeinde einzurichten sowie die von-Wangelinsche Gemäldesammlung dauerhaft ausstellen zu können. Im Obergeschoss sollte Mietwohnraum geschaffen werden. Allerdings gelang es nicht, erforderliche Zuschüsse für die Senioreneinrichtung einzuwerben, zudem konnte das frühere Verwaltungsgebäude des Kurvereins Esens-Bensersiel („Im Giebel“) als Mehrgenerationshaus mit der AWO als Träger eröffnet werden. Das Becker-Haus blieb über Jahre leer, der Heimatverein für Stadt und Amt Esens konnte jedoch allerhand Hausrat für Ausstellungen im Museum „Leben am Meer“ übernehmen. 2002/2003 erforschte Restaurator Erwin Früsemers (Jever) die Geschichte und Farbgestaltungen der Innenräume.

Durch den Esenser Ratsherren Fokko Saathoff entstand dann der Kontakt mit dem seinerzeit in Dornum lebenden Künstler und Kunstsammler Overbeck. Nach Verhandlungen beschloss der Stadtrat, das Becker-Haus im Sommer 2004 an den Künstler zu einem symbolischen Kaufpreis von einem Euro zu verkaufen, um es als ortsbildprägendes Gebäude erhalten zu können.

Allerdings musste sich der Neueigentümer schriftlich zur Sanierung binnen drei Jahren verpflichten. Vertragsbestandteil war außerdem, dass Cyrus Overbeck für die Dauer von mindestens zehn Jahren seinen Hauptwohnsitz in diesem Gebäude nehmen und es der Öffentlichkeit durch Seminare, Ausstellungen, Konzerte und Lesungen zugänglich machen musste. Für den Fall, dass der Künstler Esens verlassen und die Nutzung des Gebäudes aufgeben wolle, regelte ein Passus zusätzlich, dass Overbeck der Stadt einen Betrag von 120000 Euro zuzüglich zwei Prozent Zinsen je begonnenem Jahr bezahlen muss. Und: Seine Werke und seine Kunstsammlung (damaliger Versicherungswert 300000 Euro) würden nach dem Tod des Künstlers auf die Stadt übergehen.

War man im Ursprung davon ausgegangen, dass die Klauseln unbenutzt bleiben würden, so dauerte es nur bis 2006, bis Overbeck 120000 Euro plus zwei Prozent Zinsen (also 124800 Euro) an die Stadtkasse zahlte und damit das Schlupfloch im Vertrag nutzte. Esens verlassen oder die Nutzung des Gebäudes aufgeben, das wollte der Künstler nach Bericht im Harlinger allerdings nicht. Damit gehörte das Haus dem Neubürger, der 2004 integrierte Kunst- Erbschaftsvertrag wurde hinfällig.

Bürgermeister Wilhelm Ebrecht bezeichnete die neue Bestimmung des Becker-Hauses und die Bindung Overbecks an Esens 2004 als „Glücksfall für die Heimstadt für Kunst und Kultur“, als Bereicherung des Kulturangebotes. Der anerkannte Otto-Pankok-Biograph machte sich an die Sanierung von Dach, Außenwänden und Innenräumen, ließ neue Schablonenmalereien anfertigen. In Details eckte er allerdings mit dem Denkmalschutz an. Im Obergeschoss entstand neben einem Atelier ein Konzert- und Vortragsraum, indem zwei Zimmer zusammengeschlossen wurden. Ein Konzert veranstaltete man beispielsweise im Februar 2006. 2007 bezog der Künstler nach Sanierung seine Wohnung im Becker-Haus, wo er bis heute gemeldet ist.